Der Berliner Verfassungsschutz beobachtet ausgerechnet eine der wenigen Organisationen aus der Friedensbewegung, die sich vom Beginn der russischen Invasion an gegen den verbrecherischen Angriffskrieg stellte. Das geht aus dem am 27. Juni veröffentlichten Verfassungsschutzbericht hervor. In dem Schriftstück stört sich der Geheimdienst an zwei einfallsreichen und bildstarken Protestaktionen gegen Gazprom und die russische Botschaft, die die Antimilitaristische Aktion Berlin (amab) im Jahr 2022 organisierte. „Wir haben Witze gemacht, dass sich deswegen bestimmt die russischen Geheimdienste für uns interessieren“, sagt Jan Hansen, Sprecher*in der Antimilitaristischen Aktion Berlin (amab): „Dass aber der Berliner Geheimdienst uns wegen Protestaktionen gegen den russischen Angriffskrieg und seine Profiteure beobachtet, ist ein Skandal!“
Klares Zeichen gegen Angriffskrieg
Die Antimilitaristische Aktion Berlin (amab) ist eine Gruppe junger Menschen, die sich gegen Krieg und Aufrüstung engagieren. „Deshalb war es für uns selbstverständlich, gleich von Anfang an klare Zeichen gegen den russischen Angriffskrieg zu setzen.“ Bereits wenige Tage nach der Invasion protestierte die Antimilitaristische Aktion vor der Berliner Konzernzentrale von Gazprom. Die Gruppe zersägte damals vor der Gazprom-Zentrale symbolisch eine Gaspipeline und forderte die umgehende Schließung der Erdgaspipeline Nord Stream 1.
Gazprom stoppen
Auf Bannern und Schildern zeigten die Aktivist*innen das Gazprom-Logo statt mit Feuerzeug mit einer Rakete und dekorierten damit den gesamten Straßenzug um (https://amab.blackblogs.org/2022/03/03/kundgebung-vor-gazprom-klimaschutz-statt-krieg/). Auch Anwohnerinnen platzierten die Poster in ihren Fenstern. Außerdem zersägten als Bauarbeiterinnen verkleidete Aktivist*innen symbolisch eine Papp-Pipeline. „Statt weiter aufzurüsten, müssen wir die Geldströme nach Russland stoppen, weil damit der Krieg in der Ukraine finanziert wird“, schrieb die Antimilitaristische Aktion Berlin damals in ihrem Statement zur Aktion. Jan Hansen, Sprecher*in der Antimilitaristischen Aktion Berlin (amab), kommentiert: „Wenn der Berliner Verfassungsschutz unsere angemeldete Kundgebung als ‚Extremismus‘ einordnet, dann ist das pure Willkür und eine echte Bedrohung für die Demokratie, die der Geheimdienst angeblich schützen soll.“
Leichensäcke vor der russischen Botschaft
Eine weitere Protestaktion der Antimilitaristischen Aktion Berlin dürfte für Grusel bei den Angestellten der russischen Botschaft in Berlin „Unter den Linden“ und beim russischen Kulturinstitut in der Friedrichstraße gesorgt haben (https://amab.blackblogs.org/2022/10/01/protest-in-berlin-leichensaecke-vor-der-russischen-botschaft/). Denn die Antimilitaristische Aktion Berlin verteilte auf den Gehwegen rund um die Botschaft schwarze Plastiktüten mit der Aufschrift „Z-200“, die an Leichensäcke erinnern. Die Gruppe verkündete damals zur Aktion: „Die russische Regierung führt in der Ukraine einen mörderischen und verbrecherischen Angriffskrieg. Wir rufen die Angestellten der russischen Botschaft dazu auf, alles zu tun, damit ihre Regierung den Krieg beendet und ihre Armee aus der Ukraine abzieht.“
Berliner Geheimdienst überwacht Putin-Gegner*innen
Die Aktionen gruselten jedoch nicht nur Gazprom und die russische Botschaft, sondern ausgerechnet auch den Berliner Geheimdienst vom Landesamt für Verfassungsschutz. Das zeigte sich anlässlich der Veröffentlichung des sogenannten „Verfassungsschutzberichtes“ für das Jahr 2022. Im Extra-Kapitel zu Russlands Krieg in der Ukraine rührt der Geheimdienst im Bereich „Linksextremismus“ auf Seite 22 die Protestaktionen der Antimilitaristischen Aktion mit allem möglichen anderen zusammen: „Vereinzelt kam es zu Protestaktionen vor und zu Sachbeschädigungen an russischen Einrichtungen bzw. Unternehmen. So wurde im Februar die Konzernzentrale von „Gazprom“ wiederholt angegriffen. Im Oktober gab es zwei Sachbeschädigungen (Ablage von vermeintlichen Leichensäcken und Farbbeutelwürfe) vor bzw. an der Botschaft der Russischen Föderation.“ Jan Hansen dazu: „Auch wenn unsere Gruppe nicht namentlich erwähnt wird: Mit den wenigen Protestaktionen bei Gazprom und der Leichensack-Aktion kann der Geheimdienst nur die Antimilitaristische Aktion Berlin meinen. Denn wir waren es, die aktiv waren, als der Großteil der Friedensbewegung noch schwieg.“
Wer ist die Antimilitaristische Aktion Berlin (amab)?
Die Antimilitaristische Aktion Berlin gründete sich 2018. Sie hat etwa ein dutzend Mitglieder. „Wir wollten was gegen Krieg und Militarisierung machen, waren aber krass abgefuckt von der Friedenserstarrung“, sagt Jan Hansen. Antisemitismus, toxische Männlichkeit, Weltbilder aus dem Kalten Krieg, Kritiklosigkeit gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in Russland, regelmäßig hoch gelogene Teilnehmer*innenzahlen bei Kundgebungen, bombastische Propaganda bei den „bundesweiten Großdemonstrationen“, Kuschelkurs mit Nazis und ähnliches stieß den amab-Mitgliedern negativ auf. „Deswegen haben wir was eigenes aufgemacht.“
Veranstaltungen, Fahrten und Aktionen
Seitdem organisiert die Gruppe Veranstaltungen wie z. B. zu Rechtsoffenheit und Antisemitismus in der Friedensbewegung oder zur aktuellen Lage im Sudan. Beliebt sind die Fahrten zu internationalen Veranstaltungen wie nach Wien zur UNO anlässlich einer Konferenz zum Verbot von Atomwaffen oder zum World Peace Congress nach Barcelona. Immer wieder positioniert sich die Gruppe gegen die Verbreitung von Verschwörungsnarrativen in der Friedensbewegung. Und ab und und zu, je nach Uni-Stundenplan, mache die Gruppe auch Aktionen: „Für mehr Klimaschutz statt Aufrüstung oder aktuell gerade viel zur Forderung nach Asyl für Kriegsdienstverweiger*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine.“
Kontroverser Ruf
„Wir haben uns einen kontroversen Ruf in der Friedensbewegung hart erarbeitet“, sagt Jan Hansen. Einige wenige, vor allem aus der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsgegner*innen e. V., schätzten das Engagement der Gruppe gegen den russischen Angriffskrieg und unterstützten die Arbeit der jungen Aktiven gegen Antisemitismus, Sexismus und Rassismus in der Friedensbewegung. Andere ärgern sich über die Berichterstattung der amab, weil sie schonungslos die Anwesenheit von Nazis auf Friedensdemos kritisiert, Putin-Propaganda benennt und realistische Einschätzungen zur Größe von Veranstaltungen liefert. „Für unsere Egos ist das na klar sehr gut, dass jetzt auch ein Geheimdienst uns unsere Wichtigkeit attestiert“, sagt Jan Hansen, Sprecher*in der Antimilitaristischen Aktion Berlin (amab). „Endlich ist Friedensarbeit mal wieder aufregend und spannend!“
Was ist ein Verfassungsschutz-Bericht?
Die 17 deutschen Inlandsgeheimdienste geben alle einen jährlichen Bericht heraus. Diese heißen euphemistisch „Verfassungsschutzbericht“. Der Auslandsgeheimdienst „Bundesnachrichtendienst“ (BND) veröffentlicht keine Jahresberichte. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) versuchte es erstmalig 2020. Doch einer der beteiligten Möchtegern-James-Bonds dehnte auf einer Karte in der Publikation die Grenzen des Staates Jordanien bis ans Mittelmeer aus. Seitdem verzicht man im Verteidigungsministerium auf Jahresberichte des MAD.
https://www.jpost.com/Israel-News/German-military-counter-intelligence-omits-Israel-from-map-apologizes-627138
Konsequenzen?
Landet man in diesen Geheimdienst-Berichten, hat das indirekte und schwer kalkulierbare Folgen. Es ist eine Art Feinderklärung, in diesen Berichten vermerkt zu werden. Die Notierung signalisiert anderen Behörden, dass sie in diesen Fällen keinerlei Zurückhaltung üben müssten, da es sich ja um so eine Art Kurz-vor-Terrorist*innen handle. Darüber hinaus können einem Banken das Konto kündigen, andere Länder die Einreise verweigern und Arbeitgeberinnen von Beschäftigungsverhältnissen absehen. Außerdem zielen die Geheimdienste mit der Notierung darauf, betroffenen Gruppen die Unterstützung in der Zivilgesellschaft abzugraben. „Denn welche Organisation will schon die nächste im Fokus des Geheimdienstes sein?“ erklärt Jan Hansen.