Eine aktuelle parlamentarische Anfrage zeigt: Für den Eintrag im Geheimdienstbericht reicht offenbar die Veröffentlichung von Texten auf dem Internetportal „Indymedia“. Mit der satirischen Ablage von Leichensäcken vor der russischen Botschaft und dem symbolischen Zersägen einer Papp-Pipeline vor der Gazprom-Zentrale protestierte die Antimilitaristische Aktion Berlin gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Diese Aktionen landeten im Berliner Geheimdienst-Bericht. Denn der Berliner Verfassungsschutzschutz ist der Meinung, dass das die Demokratie bedroht. „Wir sollten die hahnebüchenen Passagen aus dem Geheimdienst-Bericht kopieren und auf Indymedia posten“ sagt Jan Hansen, Sprecher*in der Antimilitaristischen Aktion Berlin: „Vielleicht beobachtet der VS ja dann endlich mal die Demokratiefeinde in seinen eigenen Reihen?“
Alles Geheim?
In der Sitzung des Berliner Geheimdienstausschusses im September wollte – oder konnte? – Geheimdienst-Chef Fischer nicht erklären, wie es zu der Beobachtung und Nennung der Antimilitaristischen Aktion Berlin im Verfassungsschutzbericht 2022 kam. Nun hat die Abgeordnete June Tomiak (B90/ Die Grünen) mit einer parlamentarischen Anfrage zum Thema „Proteste gegen den russischen Angriffskrieg im Verfassungsschutzbericht 2022“ (Drucksache 19 / 16 703) die Innenbehörde allerdings erneut zu einer öffentlichen Rechtfertigung gedrängt.
Dünne Rechtfertungsversuche
Die aktuelle Antwort des Innensenats fällt angesichts der dünnen Erklärungsversuche aus der Geheimdienstsitzung ebenso dürftig aus. Auf die meisten Fragen hat die Regierung, die den Geheimdienst eigentlich kontrollieren soll, keine Antworten. Auf die Frage, ob der Regierung bekannt sei, wer für für die satirische Ablage der Leichensäcke vor der russischen Botschaft verantwortlich sei und ob noch weiteres zur Gruppe bekannt sei, antwortet Innenstaatssekretär Hochgrebe: „Dem Senat ist bekannt, dass sich eine Gruppierung auf einer linksextremistischen Internetseite zu dieser Aktion bekannt hat.“
Postings auf Indymedia
Damit dürfte sich der Staatssekretär vermutlich auf die vom Blog der Antimilitaristischen Aktion Berlin kopierte Pressemitteilung (https://amab.blackblogs.org/2022/10/01/protest-in-berlin-leichensaecke-vor-der-russischen-botschaft) auf der Website Indymedia (https://de.indymedia.org/node/228058) beziehen. Dieses auf die Plattform zielende Argument sei eine politische Bankrotterklärung für den Geheimdienst, so Jan Hansen (Sprecher der Antimilitaristischen Aktion Berlin). „Was an der Veröffentlichung einer Pressemitteilung auf Indymedia verfassungswidrig sein soll, bleibt schleierhaft“, so Jan Hansen weiter: „Auf der Plattform darf jede*r kostenlos und ohne Anmeldung posten. Sehr niedrigschwellig konnten und können wir so unsere Positionen gegen den russischen Angriffskrieg in die Öffentlichkeit bringen. Wir sind froh über diese Möglichkeit, die in einer Demokratie mit Pressefreiheit eigentlich selbstverständlich sein sollte. Doch das sieht der sogenannte Verfassungsschutz anscheinend anders.“
Champagner-saufen im Bundestag gegen Überwachung
Um herauszufinden, ob Geheimdienst-Chef Fischer wirklich nur heiße Luft verbreitet, machten Mitglieder der Antimilitaristischen Aktion Berlin die Probe aufs Exempel. Sie meldeten sich zu einer Veranstaltung einer Bundestagsfraktion an, ließen sich durchleuchten und gelangten auf diese Weise ungehintert in den Bundestag. Dort konnten sie sich frei bewegen, gingen auf Erkundungstour, machten Erinnerungsfotos mit ihrem Gruppen-Banner, plünderten ein Büfett und kippten sich mit Champagner auf Staatskosten voll, ohne das Herr Fischer oder sein Geheimdienst eingriffen. Hansens Fazit: „Herr Fischers angeblich ganz geheime Geheimdiensterkenntnisse über uns sind nichts als heiße Luft!“
Keine Sachbeschädigung
Im VS-Bericht heißt es über die Leichensack-Aktion der Antimilitaristischen Aktion Berlin aus dem Jahr 2022 wörtlich: „Im Oktober gab es zwei Sachbeschädigungen (Ablage von vermeitlichen Leichensäcken und Farbbeutelwürfe) vor bzw. an der Botschaft der Russischen Föderation.“ Die Antwort auf die parlamentarische Anfrage fällt auch hier kleinlaut aus: „Strafrechtlich relevant sind nach Bewertung des Berliner Verfassungsschutzes die erwähnten Farbbeutelwürfe.“ Jan Hansen: „Die Leichensack-Aktion war also keine Sachbeschädigung und damit fällt auch dieses Argument für eine Nennung im Bericht aus.“ Angesichts der Formulierung der Schlapphüre im VS-Bericht („zwei Sachbeschädigungen“ und dann Leichensäcke und Farbbeutelwürfe), könne man dieses klare Statement des Staatssekretärs beinahe als Eingeständnis lesen.
Verfassungsfeinde beim Verfassungsschutz
Was im Geheimdienstbericht vollständig fehlt, sind Informationen über Aktivitäten rechter Beamt*innen im Berliner Geheimdienst. „Dabei sollte seit dem NSU und den merkwürdigen Vorgängen beim Berliner Geheimdienst um dieses Thema klar sein, dass dort massiver Handlungsbedarf besteht“, sagt Jan Hansen. Auch zu den erwiesenen Verwicklungen des Berliner Geheimdienstes in den aktuellen Neukölln-Komplex findet man im aktuellen Bericht nichts. „Statt bei den Nazipreppern im Geheimdienst nachzusehen, vertuscht Herr Fischer dies lieber und regt sich stattdessen über kreative Aktionen gegen Putins Krieg auf!“ wundert sich Hansen.
Mehr Infos:
https://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/19/SchrAnfr/S19-16703.pdf