Was ist eigentlich gewaltfreier Journalismus und gibt es auch gewaltvollen Journalismus? Im Workshop „Nonviolent Journalism“ (deutsch: gewaltfreier Journalismus) erklärte der Journalist Tony Robinson sein Konzept des Journalismus. Er schreibt für die Nachrichtenagentur Pressenza, die als Plattform für Nachrichten im Kontext von Friedensarbeit und Gewaltfreiheit gegründet wurde. Auch wenn ich das Label ziemlich albern finde, steckten dahinter sinnvolle Konzepte. In der Fragerunde am Ende konstruierte Robinson leider eine antisemitische Verschwörungstheorie.
Der Workshop begann damit, dass drei Gruppen darüber diskutieren sollten, wie sie Gewalt und Gewaltfreiheit definieren würden. In meiner Gruppe verlief die Diskussion erwartbar wirr. Eine Person redete immer wieder über gewaltfreie Kommunikation. Andere philosophierten darüber, wie schwierig und nobel es sei, wie Ghandi und seine Anhänger*innen in Angesicht von Gewalt gewaltfrei zu bleiben. Und wieder andere schwadronierten, dass der Schlüssel zur Gewaltfreiheit die Liebe sei. Eine andere Gruppe stellte nachher eine deutliche sinnvollere Definition vor, in der sie Gewaltfreiheit weniger als das dogmatische Gegenteil von Gewalt und mehr als eine Aktionsform betrachteten.
Tony Robinson stellte dann ganz ähnliche Definitionen von Gewaltfreiheit vor. Auch die von ihm vorgetragene Definition von Gewalt war interessant. Sie stammte von Johan Galtung, und geht so: „Gewalt ist die Ursache für den Unterschied zwischen dem Vorstellbaren und dem Tatsächlichen.“ Während zum Beispiel der Tod an einer Grippe am Anfang der Menschheitsgeschichte nichts mit Gewalt im zwischenmenschlichen Sinne zu tun hatte, ist das tödliche Ausmaß der aktuellen Pandemie angesichts der Vorstellbarkeit eines deutlich besseren Gesundheitssystems mit Gewalt verbunden.
Seltsam mutete Robinsons Aussage an, die Verbrechen des Nationalsozialismus hätten keine kulturelle Voraussetzung gehabt. Als Beleg dafür diente ihm das bekannte Milgram-Experiment, bei dem Versuchsteilnehmer*innen immer wieder auf einen Knopf drückten, der angeblich anderen Versuchsteilnehmer*innen immer stärkere Stromschläge verpasste. Obwohl sie die voraufgezeichneten qualvollen Schreie aus dem Nebenzimmer hörten, drückten die Teilnehmer*innen nach nachdrücklicher Aufforderung durch die Wissenschaftler*innen immer wieder den Knopf. Das Experiment belegt die Bereitschaft von Menschen, Befehlen von Autoritätspersonen Gefolgschaft zu leisten. Dennoch hinkt der Vergleich zum Nationalsozialismus. Die Teilnehmer*innen im Milgram-Experiment gingen wohl nicht davon aus, dass sie tatsächlich jemandem ernsthaften Schaden zuführen und vertrauten den Wissenschaftler*innen, dies zu gewährleisten. Wehrmachtssoldaten hingegen waren sich ihrer mörderischen Tätigkeit vollkommen bewusst, wenn sie Leute in eine Kirche sperrten und sie anschließend abfackelten. Zu suggerieren, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus reiner Gehorsam gewesen wären, verkennt, dass die überwiegende Mehrheit der Deutschen Anhänger*innen der NS-Ideologie waren. Ohne diese Ideologie wäre das Ausmaß der Verbrechen nie möglich gewesen.
Schließlich stellte Robinson seine Prinzipien eines gewaltfreien Journalismus vor. Diese waren zwar nichts Weltbewegendes, aber durchaus sinnvoll. Unter anderem soll guter Journalismus nach Auffassung von Robinson:
- die Informationen möglichst aller Seiten darstellen
- den Blickwinkel der Journalist*in klarmachen, weil es keinen neutralen Journalismus gibt und man so Leser*innen immerhin die Möglichkeit gibt, den Artikel entsprechend einzuordnen
- nicht nur die Ideen der größten Fraktionen wiedergeben, sondern auch weniger beachtete Vorschläge mitdenken
- Menschen, die sich aktiv für eine gewaltfreie Konfliktlösung einsetzen, eine Plattform geben
- Verantwortung bei allen suchen und Dämonisierung einer Partei vermeiden
- positiven Wandel als möglich darstellen und entsprechende Perspektiven geben
Am Ende des Workshops gab es noch eine Fragerunde. Robinson nahm in einer Antwort innerhalb dieser Runde die vermeintliche „Hetzkampagne“ gegen ehemaligen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn wegen Antisemitismus als Beispiel für etwas, vor dem gewaltfreie Journalist*innen sich hüten müssten. Seiner Auffassung nach hätten „mächtige Leute“ diese Kampagne gestartet, um Corbyn loszuwerden.
Für alle, die es nicht wissen: Jeremy Corbyn hat auf Facebook ein Foto eines antisemitischen Wandgemäldes positiv kommentiert. Das Wandgemälde zeigte antisemitische Karikaturen von Juden, die unter dem Illuminati-Auge auf dem Rücken der geknechteten Arbeiter*innen Monopoly spielten. Er war außerdem Mitglied einer Facebookgruppe, die immer wieder mit antisemitischen Posts auffiel. Die Britische Equality and Human Rights Commission diagnostizierte Labour einen systematisch schlechten und sogar ungesetzlichen Umgang mit Antisemitismusvorwürfen innerhalb der Partei. Nachdem Corbyn meinte, dass die Antisemitismusvorwürfe stark übertrieben seien, wurde er von seiner Partei suspendiert.
Nun ist wirklich fraglich, welche dunklen Mächte hier laut Robinson für die Suspendierung Corbyns verantwortlich sein sollen. Klingt für mich nach knallharter Verschwörungstheorie. Nachdem ich Robinson eine entsprechende Frage stellte, entgegnete er, dass er nicht genau wisse, was Corbyn eigentlich gemacht hätte. Aber sicherheitshalber wittert er bei Antisemitismusvorwürfen einfach, dass die nicht mehr als ein politisches Instrument der „Mächtigen“ sind? Ich bat ihn, mir die konkreten „mächtigen Leute“ zu nennen, die seiner Auffassung nach für Corbyns Suspendierung verantwortlich sind. Doch es blieb bei unkonkretem Geschwurbel, wie dass „sehr viele Leute Corbyn beseitigen wollten, weil er den Status Quo bedrohte“. Zum krönenden Abschluss ergriff noch eine Teilnehmer*in das Wort. Sie ging extra nach vorne auf die Bühne, um zu erklären, dass diejenigen, die Corbyn Antisemitismus vorwerfen, die eigentlichen Antisemiten seien. Weder vom Publikum noch von Robinson gab es hier irgendeine Gegenrede, es wurde einfach die nächste Frage rangenommen und die Veranstaltung fand ein geordnetes Ende.