Wie viel Antisemitismus kann man übersehen?

In der ersten Ausgabe der Zivilcourage des Jahres 2021 hat eines unserer Mitglieder eine kritische Auseinandersetzung mit der DFG-VK-Lichtgestalt Martin Niemöller veröffentlicht. Den Text wollen wir euch nicht vorenthalten.

Als einer von wenigen Prominenten hat Martin Niemöller einen festen Platz in der Erinnerungskultur der DFG-VK. Auch aus dem Gedenkkanon der Bundesrepublik ist der Dahlemer Pfarrer nicht wegzudenken. Er sei widerständig gegen die Judenverfolgung gewesen und habe nach 1945 einen großen Beitrag zur Anerkennung und Aufarbeitung der deutschen Schuld geleistet. Nach der Lektüre der 600 Seiten starken Biografie „Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition“ (München 2019) von Benjamin Ziemann drängt sich einem der Schluss auf, dass dies eine sehr wohlwollende Interpretation sein könnte. Triggerwarnung: Der Text zitiert antisemitische Hetze.

Der Autor Benjamin Ziemann ist Professor für Neuere deutsche Geschichte an der englischen Universität Sheffield. Er forscht zu kirchlichen und militärischen Themen. Bei der Betrachtung Niemöllers liegt sein Hauptaugenmerk auf dem Kirchenkampf. Niemöllers Zeit in der Friedensbewegung schenkt der Autor verhältnismäßig wenig Beachtung. Im Archiv der DFG-VK ist er nicht gewesen, diesen Bereich rekonstruiert der Autor aus anderswo archivierten Briefwechseln und Tagebucheinträgen. Das ist schade, aber vielleicht verständlich. Denn Niemöller ist ja nicht berühmt, weil er in der DFG-VK war, sondern als Prominenter zur Friedensbewegung dazu gestoßen.

Ich habe versucht, ein angemessenes Resümee zu formulieren. Leider lässt mich die Lektüre der Biografie vor allem verstört zurück. In der Geschichtswissenschaft findet eine breite Kontroverse statt, welche Formen von Dissidenz in Nazi-Deutschland als „Widerstand“ gelten sollen und welche lediglich als „Verweigerung“ zu bewerten seien. Angesichts dessen, dass man im Nationalsozialismus auch bei „Verweigerung“ ruckzuck tot sein konnte und diese Niemöller letztlich auch für sieben Jahre in „Schutzhaft“ brachte, habe ich deutliche „Beißhemmungen“, mir ein Urteil anzumaßen.

Damit eine historische Person zur Figur der Zeitgeschichte wird, ist neben dem konkreten Wirken des jeweiligen Menschen auch die Rezeption durch Öffentlichkeit und Publikum entscheidend. Dieses Publikum ist (mittlerweile mehrheitlich) genau wie ich mit der „Gnade der späten Geburt“ gesegnet. Deshalb frage ich mich, warum Niemöllers Fans ihn nicht kritischer hinterfragt haben. Benjamin Ziemann zeigt auf, dass es dazu reichlich Anlass gegeben hätte.

Widerstand gegen die Judenverfolgung?

Das öffentliche Bild von Niemöller als Kämpfer gegen die Judenverfolgung stützt sich vor allem auf die angebliche Ablehnung des sogenannten „Arierparagrafen“. Das antisemitische „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde im April 1933 erlassen und schloss unerwünschte Personen vom Öffentlichen Dienst aus.

Der Protest hiergegen brachte Niemöller von 1938-45 ins Konzentrationslager, zunächst nach Sachsenhausen und dann bis 1945 nach Dachau. Dabei war Niemöller 1933 keinesfalls eine grundsätzliche Gegner*in des Nationalsozialismus, im Gegenteil, er war ein „Sympathisierender mit der NSDAP“ der die NS-Politik unterstützte (S. 372; hier und im Folgenden beziehen sich die angegebenen Seitenzahlen immer auf die Ziemann-Biografie).

Bereits in den 1920ern war Niemöller in antisemitischen Vereinen aktiv, die als Juden konstruierte Menschen ausschlossen (S. 407). Im Laufe des Jahres 1932 wandelte sich durch die Beschäftigung mit Luthers „Judenschriften“ Niemöllers Ressentiment von einem völkischen Antisemitismus zu einem mittelalterlich anmutenden Antijudaismus ganz im Sinne des Reformators (S. 201 ff. und S. 222-223).

In Widerspruch zum NS-Regime geriet Niemöller, als die evangelische Kirche am 6. September 1933 beschloss, den „Arierparagrafen“ auch im kirchlichen Raum anzuwenden. Dagegen protestierten Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller. Ihre Erklärung interessierte sich jedoch de facto bloß für die 18 betroffenen Pfarrer und schweigt zur Entrechtung von 300 000 Betroffenen im Öffentlichen Dienst (S. 200). Ziemann schreibt: „Solidarität mit den Deutschen jüdischen Glaubens war von ihm – wie den allermeisten Mitgliedern des Notbundes – nicht zu erwarten“ (S. 223).

Deshalb forderte das Dahlemer Gemeindemitglied Prof. Dr. Elisabeth Schliemann mit einem Brief Niemöller auf, sich ebenfalls zur Diskriminierung von Juden außerhalb der Kirche zu äußern. Niemöller lehnte ab. Er antwortete, dass „die Kirche vom Staat nichts anderes zu fordern [habe], als dass er der Verkündung keine Hemmnisse bereitet und die Kirche Kirche sein lässt (…) Die Kirche predigt nicht dem Staat in seine (gerecht oder ungerecht angewandte) Gewalt hinein, auch nicht in der Judenfrage (…).“ Und er fügte hinzu, dass er das „Recht unseres Volkes bejahe, sich gegen einen übergroßen und schädlichen Einfluss des Judentums nachdrücklich zu wehren, der meines Erachtens dagewesen ist“ (S. 205).

Bereits im Herbst 1933 relativierte Niemöller auch die Solidaritätsverpflichtung in dem von ihm selbst mitverfassten Gründungsmanifest des Pfarrernotbundes (S. 206). In dem Aufsatz „Sätze zur Arierfrage“ schrieb er, dass „die bekehrten Juden als durch den heiligen Geist vollberechtigte Glieder“ der Kirche „anzuerkennen“ seien. An der „Gemeinschaft der Heiligen“ bestehe kein Zweifel. Es gäbe allerdings Grenzen für die Anerkennung der Rechte getaufter Juden: „Wir als Volk [haben] unter dem Einfluss des jüdischen Volkes schwer zu tragen gehabt“, und so erfordere die Anerkennung der Gleichheit aller Getauften in diesem Fall erhebliche „Selbstverleugnung“ (S. 206). Von kirchlichen „Amtsträgern jüdischer Abstammung“ müsse man deshalb die „gebotene Zurückhaltung“ verlangen. Pfarrer „nichtarischer Abstammung“ sollten kein „Amt im Kirchenregiment oder eine besonders hervortretende Stellung in der Volksmission“ einnehmen (S. 206).

Auf einer Synode im Herbst 1933 beschloss der Pfarrernotbund folgerichtig, sich nicht gegen die Ausgrenzung der als Juden verfolgten Menschen aus dem öffentlichen Leben zu stellen: „Die Taufe begründet freilich für niemanden irdische Ansprüche und Rechte“ (S. 269). Die Synode diskutierte sogar, ob man noch klarstellen solle, dass die Taufe „kein weltliches Bürgerrecht“ verleihe, beließ es aber bei der ursprünglichen Formulierung.

Nach 1945 verbreitete Wilhelm Niemöller das Narrativ, die Beteiligung seines Bruders Martin 1935 an der Denkschrift der „2. Vorläufigen Kirchenleitung“ sei der entscheidende Schritt der Bekennenden Kirche von der „Verweigerung“ zum „Widerstand“ gewesen (S. 282, 307).

Professor Ziemann zeigt hingegen auf, dass es ausgerechnet Martin Niemöller war, der durch seine Interventionen immer wieder verhinderte, dass die Bekennende Kirche den Schritt von der Verweigerung zum Widerstand vollzog (S. 283). Niemöller sorgte dafür, dass die Denkschrift entschärft und durch das NS-Regime unterstützende Passagen ergänzt wurde (S. 282). Er positionierte sich gegen die Veröffentlichung in der Presse. Nachdem ausländische Medien sie trotzdem druckten, sorgte Niemöller hinter den Kulissen dafür, dass die Denkschrift in den Kirchen in einer nochmals entschärften Variante verlesen wurde (S. 281). Dies hielt die Niemöllers nach dem Krieg jedoch nicht davon ab, aus Martins Beteiligung an der Denkschrift einen Höhepunkt des Widerstandes zu konstruieren (S. 282).

Antisemitismus nach 1945

Auch nach 1945 äußerte Niemöller sich immer wieder antisemitisch. 1946 schrieb er einen Offenen Brief an Frederik J. Forell, den Leiter des Emergency Committee for German Protestantism. Niemöller behauptete darin, dass die Bewohner*innen der britischen Zone in den letzten Tagen „nur 700 Kalorien“ bekommen hätten. „Das bedeutet weniger als die niedrigste Ration, von der man jemals in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager berichtet hat.“ Die Folge sei „Verhungern im eigentlichen Sinne“ (S. 374). Weiter versuchte er mit wilden Zahlenspielen zu suggerieren, dass seit der Kapitulation des „Dritten Reiches“ im Mai 1945 „mindestens 6 Millionen Deutsche verschwunden“ seien. Hinter all dem stehe nichts anderes als „die praktische Durchführung des Morgenthau-Planes mit der Absicht, ein ganzes Volk bis zu seinen Wurzeln auszurotten“. Die Herrschaft der Alliierten über Deutschland sei letztlich nur eine Fortsetzung der „Terrorherrschaft der Gestapo“ (S. 374).

Auch im Ausland nahm Niemöller kein Blatt vor den Mund. Am 7. März 1946 sagte er in Zürich beim „Schweizerischen Hilfswerk für die Bekennende Kirche in Deutschland“: „Es besteht ein neuer Antisemitismus in Deutschland, der aber nichts mit den zurückwandernden Juden zu tun hat. Er ist dadurch entstanden, dass die Amerikaner die Entnazifizierung durch Juden ausführen lassen“ (S. 381).

Auf einer Pressekonferenz 1947 in New York erklärte er hingegen, dass es in Deutschland keinen Antisemitismus mehr gebe. Auf derselben Amerika-Reise gab Niemöller der deutsch-jüdischen Zeitung „Aufbau“ ein Interview. Er wurde gefragt, was nach Deutschland zurückkehrende Juden erwarte. Niemöller antwortete mit der rhetorischen Frage, was die Juden denn im „überfüllten und verarmten Deutschland“ tun sollten, „vorausgesetzt, dass sie nicht Bauern werden wollen?“ (S. 381). Prof. Ziemann schreibt dazu, dass der Antwort das aus völkischen Vorstellungen stammende antisemitische Stereotyp zugrunde liege, dass Juden zu harter körperlicher Arbeit weder willens noch fähig seien (S. 380).

Nach der Rückkehr aus den USA wurde Niemöller auf einer Pressekonferenz ebenfalls nach dem Antisemitismus in Deutschland gefragt. Niemöller antwortete, der Antisemitismus sei in Deutschland „totgeschlagen worden“, als 1938 die Synagogen brannten. Aber in den letzten Monaten sei der Antisemitismus als „allgemeines Gefühl“ wieder hervorgetreten, wie es ihn auch vor 1933 gegeben habe. „Der Grund dafür?“ Dass „überall in den amerikanischen Stellen (…) Juden sitzen. Wir müssen das Kind doch beim Namen nennen. (…) Wenn ich als Jude von Amerika nach Deutschland herüber ginge, nachdem ich dem Gemetzel unter Hitler entgangen bin, würde ich auch in Hasspolitik und Rachepolitik machen, vorausgesetzt, dass ich nicht Christ bin“ (S. 380).

Auch im Herbst 1947 beklagte sich Niemöller gegenüber Ewart Turner, dass die Lebensmittelrationen auf 100 Gramm Fleisch pro Woche gekürzt worden seien. Normalverbraucher würden also in den kommenden Monaten sterben. Es werde „jener Jude (in der US-Militärverwaltung – Anmerkung der Verfasser*in) recht behalten, der meine Frage danach, was mit den zu vielen Menschen in der westlichen Zone passieren werde, sagte: ,Keine Sorge, wir kümmern uns darum, dieses Problem wird in einer recht natürlichen Weise gelöst werden!‘“ (S. 381-382).

Ähnliche Gedanken prägten auch Niemöllers Alltagshandeln. Im Juni 1946 geriet er mit Wilhelm Beez aneinander. Dieser war Landrat und Kreisvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) und in dieser Position für die Verteilung von „Care“-Paketen zuständig. Landrat Beez war vom SPD-Ortsverband Büdingen zugetragen worden, dass Niemöller dem Kaiserenkel Prinz Hubertus von Preußen, der Fürstenfamilie Ysenburg und lokalen Nazi-Größen für Opfer des NS-Regimes bestimmte Lebensmittel zuschanzte. Beez strich deshalb Niemöller von der Verteilerliste. Niemöller war empört: „Sie unterstützen wohl nur Judenfreunde?“ (S. 375).

Der Vorfall sprach sich herum, und der „Spiegel“ bat Niemöller um eine Stellungnahme. Niemöller wiederholte seinen Vorwurf öffentlich und bekräftigte, diesen beweisen zu können. Das brachte das Fass zum Überlaufen, und die VVN setzte Niemöller ganz vor die Tür. Niemöller reagierte uneinsichtig. In einem Vortrag im August in der Büdinger Kirche sagte er, die „Angriffe“ auf ihn seien „wie in den vergangenen 15 Jahren üblich“ abgelaufen und warf damit die VVN mit dem Naziregime in einen Topf (S. 375).

Die sich hier andeutende Transformation vom völkischen Antisemitismus über einen lutherischen Anti-Judaismus zur kulturellen Judenfeindlichkeit setzte sich bei Niemöller bis ins Alter fort. 1962 schlug ihm Helmut Gollwitzer vor, gemeinsam am 9. November an den Gedenkveranstaltungen in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, teilzunehmen. Doch Niemöller behauptete, keine Zeit zu haben. Denn am 9. November beginne auch die Jahrestagung der Deutschen Friedensgesellschaft. Im folgenden Jahr fragte Gollwitzer erneut. Diesmal müsse er nach London, sagte Niemöller. Warum die Kirche ein Interesse an Israel haben solle, sei ihm „schleierhaft“. Und dass sich die Araber*innen durch den „jüdischen Staat“ gefährdet und attackiert sehen“, das könne er „ihnen nicht übel nehmen“ (S. 505).

1967 verschärfte Niemöller dieses Argument noch gegenüber Elsa Freudenberg, um deren jüdische Abstammung er wusste. Er sei der Überzeugung, dass er, „wenn er Araber wäre, bestimmt Antisemit wäre, weil hier ein fremdes Volk auf meinem Boden einen Staat gegründet hat, den meine Väter seit 1 200 Jahren bewohnt haben“. Elsa Freudenberg konterte, dass das nur ein Spiel mit Worten sei, dass der Hass der Araber sich nur „gegen den Staat Israel richtet und nicht gegen den einzelnen Juden“ (S. 506).
Anerkennung der deutschen Schuld?

Angesichts dieser Befunde muss man auch die Stuttgarter Schulderklärung von Herbst 1945 und Niemöllers Engagement dafür kritisch betrachten. In der gängigen Geschichtserzählung betonen seine Fans, dass Niemöller maßgeblich hinter der „Stuttgarter Erklärung“ gestanden habe. Diese Erklärung ist in der Geschichtserzählung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bis heute zentral, wenn es um den Neuanfang nach 1945 geht.

Niemöller argumentierte tatsächlich für ein Schuldbekenntnis und warb auch für die Stuttgarter Erklärung. Jedoch sticht der instrumentelle Charakter hervor (S. 400). Im Spätsommer 1945 sagte er auf einer Tagung des Reichsbruderrates (Leitungsgremium der Bekennenden Kirche), die das vorbereiten sollte, was später als „Stuttgarter Erklärung“ bekannt wurde, man solle den anklagenden Hinweis auf die Besatzungsmächte „noch“ unterlassen, denn „die Amerikaner hören es noch nicht“. Er betonte, dass die Deutschen erst dann keine „Hohn- und Spottlieder der Welt“ mehr hören würden, wenn sie ein hinreichendes Zeichen der Einsicht in ihre Schuld abgelegt hätten (S. 400).

Der dann im Herbst 1945 verabschiedete Text des Stuttgarter Bekenntnisses ist sehr kurz. Er umfasst drei Absätze. Die Erklärung betont zunächst die deutsche Schuld und nennt die Nazi-Taten folgendermaßen: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“

Bereits im zweiten Absatz stellt sich die Kirche als Hort des Widerstandes dar: „Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist [des NS] gekämpft“.

Im dritten (und letzten) Absatz wird mit vorher erzeugter moralischer Legitimität postuliert, dass nur durch den „gemeinsamen Dienst der Kirchen dem Geist der Gewalt und Vergeltung der heute von neuem mächtig werden will“ begegnet werden könne.

Mit dieser Floskel von der Vergeltung werden die Alliierten in ein Fass mit den Nazis geworfen und der Aufarbeitung der Verantwortung für die Nazi-Verbrechen eine Absage erteilt. Aus dem großspurigen Verweis auf die Lehren aus der Vergangenheit wird die Legitimation abgeleitet, sich überall einmischen zu dürfen.

Die deutsche Außenpolitik basiert bis heute auf diesem Trick. Die Stuttgarter Erklärung ist in meinen Augen somit ein frühes Beispiel von „Aufarbeitungsweltmeisterei“.

Von 1945 bis zum Bekanntwerden seiner antisemitischen Ausfälle in den USA 1947 war Niemöller fast non-stop unterwegs, um für die Stuttgarter Erklärung zu werben. Diese Veranstaltungen wurden oft von Deutschen gestört, für die bereits die Vorstellung, dass an den vergangenen 12 Jahren überhaupt irgendwas schlecht außer der Niederlage gewesen sei, zu viel war. Benjamin Ziemann schreibt, dass Niemöllers Reden keinem festen Skript folgten und nur aus Zeitungsartikeln und Mitschriften der Zuhörenden dokumentiert sind. Die Reden seien regelmäßig um seinen bekanntesten Spruch oder ähnliche Figuren orientiert gewesen:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Mit dem Wissen um Niemöllers Gedankenwelt sticht ins Auge, dass Prof. Ziemann schreibt, dass er keine einzige von Niemöller autorisierte Fassung finden konnte, in der die verfolgten Juden in das bekannte Zitat eingeschlossen sind (S. 521). Prof. Ziemann stellt außerdem heraus, dass im Gegensatz zum obigen Zitat Niemöllers Schuld nicht im Schweigen bestanden habe. Niemöller „schwieg keinesfalls zur Verfolgung von Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen (…), sondern er bekämpfte die Mitglieder dieser Parteien.“ (S. 521).

Wie ambivalent Niemöllers Schuldbekenntnis war, zeigen weitere Zitate. Noch 1947, zwei Jahre nach dem Stuttgarter Bekenntnis, schrieb Niemöller einen Essay gegen das „Märchen von der deutschen Kollektivschuld“. Er bezichtigt die Amerikaner eines „gewollten Massenmordes an einem Volke“. Denn die Amerikaner hätten keine Demokratie nach Deutschland gebracht, und seit Kriegsende seien „mehr deutsche Menschen verschwunden und umgekommen“ als während der zwölf Jahre des „Hitler-Terrors gemordet wurden, einschließlich der angeblich 6 Millionen verschwundenen Juden“ (S. 490).
Völkische Motivation für die Friedensbewegung

Eine völkisch-nationalistische Sichtweise zeigt sich auch bei Niemöllers Engagement in der Friedensbewegung. Niemöller postulierte 1958 Sätze wie „Das deutsche Volk ist dem sicheren Atomtod ausgeliefert“ oder „Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht“ (S. 458).

Zitate aus einem Text von 1951 gegen die Wiederbewaffnung zeigen, dass der Begriff „Volk“ hier nicht nur Floskel ist. Die „Not der Deutschen“ sei, dass ihr Land „entweder Kriegsschauplatz oder Brücke“ sein werde. Durch den Kalten Krieg seien die Deutschen „nur noch Objekte“ für „die Pläne anderer Mächte“. Wenn die Deutschen der Logik des Kalten Krieges folgten und sich für eine Seite entschieden, würde sie nur die „Verewigung unserer Not“ und „der Unfreiheit“ erreichen (S. 435). Niemöller fühlte sich hier ganz im Einklang mit der Bevölkerung, denn die Ablehnung der Wiederbewaffnung sei national, wo nicht ausgesprochen nationalistisch motiviert“ (S. 435).

Prof. Ziemann schließt daraus, dass Niemöller die Wiederbewaffnung ablehnte, weil sie multinational im Bündnis mit anderen Staaten gedacht wurde und nicht als nationale deutsche Armee.

Einer völkischen Argumentation zur Wiederbewaffnung, die „Freiheit“ nicht als Freiheit des Einzelnen definiert, sondern als nationale Bestimmung, kann ich wenig abgewinnen. Ich bezweifle, dass ein solcher Freiheitsbegriff eine Grundlage für eine emanzipatorische Politik, die Gewalt zwischen Menschen und Staaten abbaut, sein kann.

Unverständlich ist für mich, dass Niemöller nie mit der Kadetten-Crew von 1910 brach. Die Offiziere der Marine betrachteten ihre „Crew“ als Lebensbund und pflegten ihre Kameradschaft in jährlichen Treffen, bei denen gemeinsam gesoffen und gefressen wurde.

In der 1910 beginnenden Offiziersausbildung segelte Niemöller u.a. mit Dönitz und 13 weiteren späteren Admirälen der NS-Kriegsmarine. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher*innen war es Niemöller, der in einer Zeugenaussage beschwor, dass der Oberbefehlshaber der Marine und letzte deutsche Reichskanzler Karl Dönitz selbstverständlich nichts von den Konzentrationslagern gewusst haben könne (S. 506).

Es gab zwar einigen Streit und Ärger in der Crew, nachdem Niemöller zu Unrecht vorgeworfen wurde, die Offiziersausbildung als „Hohe Schule des Berufsverbrechertums“ bezeichnet zu haben, und Niemöller damit konterte, dass Dönitz und die anderen nicht genug getan hätten, um ihn trotz zweifelsfreier nationaler Gesinnung aus dem KZ frei zu bekommen, doch auch noch 1980 besuchte er das „Crew-Treffen“ in Kiel.
Die Verleumdung Georg Elsers

Verstörend ist auch die Verleumdung Niemöllers eines anderen „persönlichen Gefangenen des Führers“. Im Januar 1946 sprach er vor Göttinger Student*innen über den „SS-Unterscharführer Georg Elser“ der angeblich „1939 das Attentat im Bürgerbräukeller auf Hitlers persönlichen Befehl durchzuführen hatte“ (S. 412). Angehörige Elsers suchten daraufhin die Auseinandersetzung mit Niemöller. Dieser kanzelte sie ab und rechtfertigte seine verunglimpfenden Lügen mit von ihm mitangehörten Gesprächen der SS-Wachmannschaft im KZ Dachau.

Trotz gegenteiliger Forschungsergebnisse hielt er den Lagertratsch der SS-Schergen für glaubwürdiger und verunglimpfte Georg Elser bis in die 1970-er Jahre folgendermaßen: „Hiermit möchte ich deutlich machen, dass hinter dem Willen [Elsers – Anm. des Verf.] kein Ethos stand, auch nicht eine Null oder ein Nichts, sondern ganz einfach das, was man in der Menschheit einen verbrecherischen Willen nennt: keine Seele, keine Verantwortung.“

Ulrich Renz vom Georg-Elser-Arbeitskreis Heidenheim bezeichnet Niemöller sogar als „Hauptverursacher eines falschen Elser-Bildes“ (Ulrich, Renz: Der Fall Niemöller. Heidenheim 2002, im Internet einsehbar unter https://bit.ly/3jCm02B).

Ziemann schildert, dass bei einer großen Ökumene-Veranstaltung 1952 in Indien der deutsche Bischof Hanns Lilje statusbewusst trotz tropischer Temperaturen in schwarzem Bischofskleid schwitzend herumlief und sich bei der Essensausgabe wie selbstverständlich vordrängelte, während Niemöller, in heller Hose und Hemd, sich wie alle anderen hinten anstellte und beim Essen auf dem Boden saß (S. 494). Einen deutschen Faschisten stellt man sich anders vor.

Der „friedensbewegte“ Niemöller

Benjamin Ziemann beschreibt, dass es weniger Niemöllers Rolle als „Lichtgestalt“ gewesen sei, die für die Friedensbewegung wichtig gewesen sei. Viel mehr habe u.a seine Theologie ermöglicht, das sich Kirchen den Anliegen der Friedensbewegung geöffnet habe und so breite Bündnisse, an denen sich viele Menschen beteiligen, gesellschaftlich möglich wurden. Auch sei es der deutschen Friedensbewegung durch Niemöllers Engagement in der Ökumene gelungen, ihren Eurozentrismus zu überwinden und Frieden als ein Ziel zu begreifen, das nur im Rahmen der „Menschheitsfamilie“ erreicht werden könne (S. 470). Ziemann deutet Niemöller zudem als die zentrale Person, die die DFG-VK für die Unterwanderung durch die DKP geöffnet habe, da alle Menschen gleich seien, wenn sie sich nur für den Frieden engagieren wollen.

Ziemann beschreibt, wie Niemöller im Laufe der Jahre durch den „Atomschock“ und seine Mitarbeit in der Ökumene seinen Antibolschewismus ablegt. Die Aufgabe des Antibolschewismus ging letztlich so weit, dass Niemöller 1976 versuchte, Pastoren in der DDR zu erklärten, dass der Sozialismus die einzige gerechte Gesellschaftsordnung sei und Milliardäre enteignet werden sollten (was in einem Tumult endete (S. 503)). An seinem Lebensende konnte er mit seiner fundamentalistischen Theologie vermutlich selber nicht mehr viel anfangen, wie er mehrmals andeutete (S. 503).
Unterstützung des Vietcong in seinem „gerechten Krieg“

An seinem Lebensende verortete sich Niemöller selbst schließlich weit links der Kommunist*innen (S. 503). Der späte Niemöller sah sich als „Revolutionär“ und warb z.B. beim Bundeskongress der DFG-VK 1972 für eine Unterstützung des Vietkong: „Wenn Sklaven sich wehren, ist das gerechter Krieg. Wir machen zwar nicht mit, aber unsere Sympathie ist beim vietnamesischen Volk“ (471).

Man beachte die erneuten und auch im hohen Alter auftretenden Argumentation mit einem völkischen Referenzrahmen, der Sklaventum nicht an einer individuellen Positionierung in einer Gesellschaft festmacht, sondern an der Souveränität eines angeblichen Volkes und der Abwesenheit von fremder Besatzung. Und bei der Floskel vom gerechten Krieg stellen sich mir die Nackenhaare auf.

Mein Bild von Niemöller ist ein gespaltenes. Die Niemöllers, der eine Parteimitglied, der andere begeisterter Wähler Hitlers, deuteten nach 1945 ihre religiöse Verweigerung im NS-Regime zu politischem Widerstand um, und verschwiegen, dass genau sie es waren, die verhindert hatten, dass aus der religiösen Verweigerung der Bekennenden Kirche politischer Widerstand geworden war. Gleichzeitig verunglimpfte Martin Niemöller mit Georg Elser einen der wenigen Menschen, die tatsächlich die Courage hatten, Widerstand zu leisten. Er war auch nach 1945 bereit, Gräuelmärchen aus Nazi-Propaganda und an andere Verschwörungstheorien zu glauben, und verbreitete diese öffentlich. Und dass seine Fans dem nicht widersprochen haben, ist auch Teil des Gesamtbildes.

Kein aufrechter Bekenner

Niemöller stützte seine Theologie auf den zentralen Begriff des „Bekennens“. Mit dem Schuldbekenntnis schließt er an diese rhetorische Figur an. Da ist es irritierend, dass er sowohl in der Nazizeit (S. 305) als auch danach kontinuierlich bereit war, seinen Lebenslauf zu schönen, wenn es ihm opportun erschien. Die Umdeutungen rund um die 2. Denkschrift der vorläufigen Kirchenleitung habe ich schon erwähnt (S. 307 ff.). Niemöller strickte die Legende, das er im KZ eine Freilassung gegen Widerruf abgelehnt habe, obwohl es genau umgekehrt war (S. 315). Seine Meldung zur Marine aus der Haft redete Niemöller nach 1945 erst damit schön, dass er nur in Freiheit habe Christ sein können, obwohl eindeutig seine nationalistische Weltanschauung der Grund war (S. 325). Als das nicht verfing, erfand er die Story, dass er sich dem militärischen Widerstand habe anschließen wollen. Quellenkritisch betrachtet kann er von diesem aber nicht gewusst haben (S.325, 362).

Fast schon unterhaltsam ist auch das zeitgenössische Vor und Zurück um das Debakel mit dem Besuch bei Hitler 1934 (S. 221 ff.). Der Besuch mündete in ein Debakel. Hitler beschloss danach, den Bischof, gegen den die Bekennende Kirche opponierte, noch mehr zu unterstützen. Niemöller redete in der Folge seinen Beitrag möglichst klein. Nach 1945 macht er aus dem Patzer jedoch eine heldenhafte Widerstandsgeschichte mit ihm in der Hauptrolle (S. 221 ff.).

Auf dem Höhepunkt des erwähnten Skandals mit der VVN, der angeblich „nur Judenfreunde“ unterstütze, behauptet Niemöller, dass er, der „Kämpfer für Recht und Wahrheit“ sich nach „anfänglicher Sympathie“ bereits nach der Ermordung eines kommunistischen Arbeiters und Gewerkschafters im oberschlesischen Dorf Potempa durch eine Gruppe uniformierter SA-Männer im August 1932 „von der NSDAP“ abgewandt habe (S. 377). Seine Fans ignorierten all dies, obwohl er mehrmals von Medien bei so offenkundigen Lügen wie der Story mit Potempa ertappt wurde.

Die Martin-Niemöller-Stiftung behauptet noch heute, im „Als sie die Kommunisten holten“-Zitat kämen Juden nicht vor, weil Niemöller diese nicht habe nennen können, weil „die große Verfolgungswelle“ erst eingesetzt habe, als er schon im KZ gewesen sei (https://bit.ly/3tCJKYE). Dieses Argument lässt sich schnell entkräften: Die Verfolgung der Juden ging gleich 1933 in der ersten Woche nach der Machtübertragung mit einem gewalttätigen Boykott los, und die Reichspogromnacht dürfte selbst in Sachsenhausen erfahrbar gewesen sein. Interessanter ist aber der Zusammenhang: Von der Judenverfolgung soll Niemöller im KZ nichts mitbekommen haben, während er gleichzeitig über den militärischen Widerstand im Bilde gewesen sein will?

Auch das häufig benutzte Argument, dass Niemöller ein Kind seiner Zeit gewesen sei, und man deshalb Verständnis für seine Äußerungen haben müsse, halte ich für Verharmlosung. In Niemöllers Umfeld gab es Menschen, die denselben Zeitumständen und Bedrohungen ausgesetzt waren und trotzdem darauf beharrten, dass alle Menschen Menschen seien (das schreibe ich hier so plakativ, denn genau darauf, diese einfache Erkenntnis zu negieren, läuft Antisemitismus und die Zustimmung zur Machtübertragung hinaus). In der Bekennenden Kirche gilt dies z.B. für Franz Hildebrandt, Karl Barth, Gerhard Jacobi, Christa Müller, Georg Schulz, Elisabeth Schmitz und Elisabeth Schiemann, die bereits 1933 Niemöller und der antisemitischen NS-Politik widersprachen (S. 209 und S. 223).

Aus der Crew von 1910 gilt dies für den Kapitänleutnant (und späteres DFG-Mitglied) Heinz Kraschutzki, dem die Einsicht bereits im Ersten Weltkrieg kam und der sich aktiv an der Novemberrevolution beteiligte (aber weiterhin an den Crew-Treffen teilnahm). Auch die bereits 1916 erfolgte Aufsehen erregende Entfernung des Kapitänleutnants Hans Paasche (Crew von 1899) aus der kaiserlichen Flotte dürfte dem Marineoffizier Niemöller zu Ohren gekommen sein. Niemöller selbst trat dem Argument von den Zeitumständen entgegen, wenn er Heinz Kraschutzki später so vorstellte: „Das ist mein alter Marinekamerad Kraschutzki. Ihm hat schon der Erste Weltkrieg die Augen geöffnet über das Wesen des Militarismus. Bei mir war leider noch ein Zweiter nötig.“ (Ralph Giordano: Rufer in der Wüste. In: Die Zeit, 10.6.1999).

Zu einem aufrechten Bekenner hätte gehört, dass Niemöller seine Vergangenheit konsistent aufarbeitet. Das tat er jedoch nicht. Gleichzeitig stritt Niemöller in späten Jahren für eine gerechtere Welt, wo er konnte. Der Wandel der Einstellungen und Überzeugungen Martin Niemöllers ist nicht im Sinne eines Saulus-Paulus-Erlebnisses passiert. Ich denke, man sollte sich Niemöllers Einstellungswandel eher wie einen kontinuierlichen lebenslangen Prozess vorstellen. Da Niemöller auch immer mehr oder weniger in seinen alten Vorstellungen festhing, dürfte ihm das aufrechte Bekennen zu seiner Vergangenheit so schwer gefallen sein.

Zu Niemöllers Geschichte gehören jedoch auch die Fans, die nicht genauer nachfragten oder es gar nicht so genau wissen wollten, wenn Niemöller für peinliche Details schnell mal eine Ausrede konstruierte.

Uns sollte das Beispiel Niemöller mahnen, auch bei „großen“ Männern (und Frauen) genau hinzuschauen. Auch unsere eigene Blendung beim Betrachten von vermeintlich beeindruckenden Vorbildern müssen wir immer wieder hinterfragen. Denn charismatische Anführer*innen sind nichts ohne ihre Fans, die sie kritiklos beklatschen.

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