Da reibt sich manche wackere Veteran*in der Friedensbewegung die Augen: Auf den Demos der Corona-Spinner*innen weht die regenbogenfarbene Friedensfahne gleich neben der Reichskriegsflagge und anderen Unappetitlichkeiten. Wie konnte das passieren? Im Buch „Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“ vertreten die von den Herausgeber*innen Heike Kleffner und Matthias Meisner versammelten Autor*innen u.a. die These, dass der anhand der Flaggenverirrung sichtbar werdende fehlende Mindestabstand nach rechts das Ergebnis einer langanhaltenden Entwicklung ist, die in der Friedensbewegung weitgehend ignoriert wurde.
In „Fehlender Mindestabstand“ versammeln die Herausgeber*innen auf ca. 350 Seiten die Beiträge von 39 Autor*innen. In eher kurzen Artikeln beschreiben sie, wie die fehlende Abgrenzung nach rechts in weiten Teilen des Bürger*innentums in der Corona-Krise sichtbar wird. Sie zeigen damit, dass autoritäre Einstellungen und Menschenfeindlichkeit kein Problem der gesellschaftlichen Ränder sind, sondern leider einen festen Platz in der Mitte der Gesellschaft haben.
Die Autor*innen zeigen auch auf, dass Nazis den Aufruf zum Unpolitisch-sein jenseits von rechts und links nicht zufällig als Einladung interpretieren. Relativierungen der Shoa (Anne-Frank-Bezüge, „Wie 1933!“-Zitate) betreiben nicht nur Täter-Opfer-Umkehr, sie suggerieren auch, dass der Infektionsschutz, das Tragen einer Maske und nette freundliche Cops, die mit dem Wasserwerfer über die Köpfe der Menge hinwegzielen, irgendwie mit dem ab 1933 einsetzendem Terror, der zum Zweiten Weltkrieg und der Ermordung von über sechs Millionen Juden führte, dasselbe seien. Auch Hetze gegen „die da oben“, ,,Bill Gates“ o.ä. verweist auf antisemitische Stereotype, die von weiten Teilen des Bürger*innentums geteilt werden und an die Nazis selbstverständlich anknüpfen können. Und warum sich viele von einem neu-imperialistischen Autokraten wie Putin retten lassen wollen, ist mir nach wie vor unverständlich, lässt sich aber laut den Autor*innen mit einer Akzeptanz für autoritäre Politikmodelle erklären.
Ein Kapitel widmen die Autor*innen eigens der Friedensbewegung. Unter dem Titel „Ein Angstszenario nach dem anderen“ beschreibt Sebastian Leber die Mahnwachen-Bewegung von 2014 und den sog. „Friedenswinter“ als Wiege der Corona-Bewegung. Leber zeigt, dass zentrale Akteure der Berliner Mahnwache auch die Corona-Proteste organisieren. Anhand von Zitaten der Schlüsselfiguren zeichnet er nach, dass es bei beiden Bewegungen um dieselben autoritären Inhalte ging. Für mich war es erschreckend zu lesen, wie krass der Antisemitismus eines Ken Jebsen schon 2014 war, und zu wissen, dass eigentlich ganz vernünftige und angesehene Leute in der Friedensbewegung Jebsen für einen geeigneten Bündnispartner hielten. Auf der einen Seite wollen wir immer ganz seriös sein und mit Lobbyismus Abgeordnete und Entscheidungsträger*innen erreichen, und auf der anderen Seite kreiselt unser politischer Kompass so sehr, dass wir autoritäre und menschenfeindliche Verschwörungsknallis nicht als das erkennen, was sie sind, sondern sie für geeignete Bündnisparter*innen für eine Kampagne wie den „Friedenswinter“ hielten. Ich würde mir deshalb deutlich mehr Positionierungen unserer Verbandsspitze gegen Verschwörungs-Blödsinn wünschen.
Wer mehr dazu wissen möchte, aber leider keine Zeit hat, dass 22 Euro kostende im Herder-Verlag erschienene Buch zu lesen, ist am Montag, den 11. Oktober, herzlich in die Mehringhöfe in Berlin, Gneisenaustraße 2A. eingeladen. Die Antimilitaristische Aktion Berlin (amab), das Büro für antimilitaristische Maßnahmen (BAMM) und der Berliner Landesverband der DFG-VK veranstalten dort um 19 Uhr eine Diskussion mit dem Titel „Frieden für Deutschland? Was tun gegen Rechtsoffenheit in der Friedensbewegung!“ Dazu haben wir neben der Herausgeber*in Heike Kleffner und dem Autor Sebastian Leber auch Fabian Virchow eingeladen, um die Thesen des Buches zur Friedensbewegung zu diskutieren.
Und wer lieber Fernsehen guckt, findet hier eine Aufzeichnung der Buchpremiere: https://bit.ly/2VsUc8M
Heike Klefner, Matthias Meisner (Hg.): Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde. Freiburg 2021; 352 Seiten; 22 Euro